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Klaus Siegmund


Der rote Fisch

Kurzgeschichten

Augsburg 1996

Inhalt 'Der rote Fisch'

 

HTML-Fassung v1.0 nach dem Text der 1.Auflage Februar 1996
© Erwin Rauner Verlag Augsburg 1996
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 3-9804409-1-5

 


Inhalt des Bandes 'Der rote Fisch'

Der böse Geist 7

Die weißen Fische 13

Das Boot 22

Verwirrung 25

Man darf die Beine nicht auf den Tisch legen! 29

Sonnenuntergang 39

Der rote Fisch 52

Eine Halluzination? 57

Zu spät 64

Das Pferd 67

Das Erwachen 69

Gedankenlosigkeit 76

Ein Exhibitionist? 81

Die Augen des Fischers 88

Der große Fisch 93

Der Lacher 96

Die Einladungen lassen auf sich warten 99

Das Zeitloch 105

Die verlorene Maske 111

Der Schriftsteller 115

 



Leseprobe:



Klaus Siegmund

Der rote Fisch

Eines steht fest: Ich hätte ihn nicht besuchen sollen. Und ich wollte es auch nicht. Aber ich bin ein Mensch, dem es nur selten gelingt, eine Absage so unmißverständlich zu formulieren, daß von einer zweiten Einladung abgesehen wird. Und so gab ich seinem Drängen nach.

Können Sie sich meine Überraschung vorstellen, als ich die Tür zu seinem einzigen, allerdings sehr großen Zimmer geöffnet hatte und nun, in der Tür stehend, den Raum überblickte? Ich starrte in eine Flut von Kanariengelb, die mir entgegenprallte, und tastete nach der Türfüllung, um nicht von der gelben Woge hinweggespült zu werden. Alles — Wände, Schlafcouch, Tisch und Sessel, Vorhänge, Fußboden, Teppiche, ja, selbst Aschenbecher und Lampen, die Bücherregale und der Nippes, der herumstand — war in diese entsetzliche, ekelerregende Farbe getaucht. Nur an einer Stelle, genau in der Mitte der den Fenstern gegenüberliegenden Wand, wurde dieses gelbe Chaos von einem langgezogenen, aggressiv roten Fleck durchbrochen. Und es schien mir, als ob er sich schlangenhaft träge bewege.

"Überrascht?'' Ich sah Bargeb erst jetzt. Er saß in einem der kanariengelben Sessel, eingehüllt in einen kanariengelben Morgenrock — wie mir der Ekel wieder hochsteigt, sobald ich mich dieser Farbe erinnere! — und lächelte mir unbefangen zu.

"Eine meiner Allüren!... Oh nein, meine einzige!'' verbesserte er sich rasch. "Aber ich kann auf sie nicht verzichten... Sehen Sie, der Mensch plant, setzt sich seine Ziele... Ich hatte nur ein einziges: Sicherheit!''

Er schwieg einen Augenblick, den Kopf gesenkt.

"Ich hätte unabhängig leben können. An Geld fehlte es mir nicht. Aber was heißt das schon. Was ich wollte, war vollkommene Sicherheit. Alles sollte überschaubar, jeder Zufall ausgeschaltet sein, jeder sich auch nur entfernt abzeichnenden Gefahr begegnet werden können.''

Weshalb er nur immer auf den Teppich starrt? fragte ich mich damals.

"Was unternahm ich nicht alles, um diesem Ziel näherzukommen. Aber wenn ein Mensch all seine Willenskraft einsetzt, erreicht er viel. Manchmal zu viel! Um es kurz zu machen: Eines Tages wußte ich, daß ich den falschen Weg eingeschlagen hatte.'' Er schwieg von neuem, den Blick noch immer gesenkt. "Sehen Sie, damals erkannte ich, daß ein ungefährdetes Leben auf die Dauer unerträglich ist. Einem meiner Freunde erging es ebenso. Er richtete sich deshalb dieses Zimmer ein. Als er vor drei Jahren verschwand — wie ist niemals geklärt worden —, hinterließ er es mir mit allem, was mich hier umgibt. Gerade zur rechten Zeit. Ich weiß nicht, wie ich sonst hätte weiterleben sollen. Ja, und seitdem bin ich wieder so etwas wie ein glücklicher Mensch. Obwohl ich die gelbe Farbe hasse — oder vielleicht gerade deshalb."

"Und der Fisch?" fragte ich. Schon einige Zeit hatte ich hinübergeschaut zu dem langgezogenen roten Fleck, hatte längst erkannt, daß es ein Fisch war, der in dem gelben Ozean träge dahinschwamm. Feine gelbe Wirbel wanderten seine scharfgezackte Rückenflosse entlang, und der walzenförmige Körper pendelte ruhelos hin und her. Nur der Kopf, der spitze Kopf mit dem weit aufgerissenen Maul, den hakenförmigen Zähnen und den flachen, ausdruckslosen Fischaugen verharrte völlig regungslos, wie an eine unsichtbare Klippe geheftet.

"Auch ein Geschenk meines Freundes." Bargeb sprach mit merkwürdig gedämpfter, leicht belegter Stimme, fast ohne die Lippen zu bewegen, und starrte dabei noch immer auf den dicken, kanariengelben Wollteppich. Fast schien es, als vermeide er es ängstlich, den Blick zu dem roten Ungeheuer zu erheben.

"Vielleicht haben Sie schon bemerkt, daß er sich zu bewegen scheint. Das Werk eines unbekannten, aber sicher nicht unbedeutenden Künstlers. Nur, wie soll ich sagen, etwas zu realistisch."

Wir sprachen nicht mehr von dem roten Fisch, auch nicht bei meinen späteren Besuchen, wir führten eintönige Gespräche, die sich so dahinschleppten und in Alltagserlebnissen erschöpften. Damals hätte ich meine Beziehungen zu Bargeb abbrechen sollen. Warum ich es nicht tat? Das habe ich mich selbst oft gefragt, mir darauf aber keine Antwort geben können. Irgendetwas — was nur? — zog mich zu ihm hin. Sicher nicht die gelbe Farbe seines Zimmers — sie ließ nach wie vor das Gefühl des Ekels in mir aufsteigen —, auch nicht der rote Fisch, denn sein Anblick wurde mir von Besuch zu Besuch unangenehmer, ja, beunruhigte mich. Hatte ich anfangs noch dann und wann verstohlen zu ihm hinaufgeblickt, bald vermied ich es wie Bargeb meinen Blick über die Tischplatte zu erheben. Fürchtete ich, er könnte sich von der Wand lösen?

Es mochten zwei Monate seit meinem ersten Besuch vergangen sein. Tropische Hitze hatte den ganzen Tag über der Stadt gebrütet, und gerade als ich das Haus, in dem Bargeb wohnte, betrat, verdunkelte ein heftiger Gewitterregen Straße und Häuserfronten. Ich stieg die zwei Treppen zu Bargebs Zimmer hinauf, klopfte und trat ein.

Bargeb saß in einem der kanariengelben Sessel, den er in die Mitte des Zimmers gerückt hatte, und der rote Fisch, das Maul weit aufgerissen, durchschwamm das gelbe Chaos aus Wandflächen und Vorhängen, Nippes und Bücherregalen. Er umschwamm Bargeb, wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, in konzentrischen Kreisen, mir bald die Breitseite mit der ausgefransten Seitenflosse und den rautenförmigen, glänzenden Schuppen zuwendend, bald den dreieckigen Kopf mit den Hakenzähnen oder die schwerfällig hin und her pendelnde Schwanzflosse. Und dann geschah es: Mit einer Behendigkeit, die ich dem grobgebauten Ungeheuer nicht zugetraut hätte und die an das im Ansatz nicht erkennbare Vorschnellen einer Natter erinnerte, stieß er plötzlich zu, riß vom rechten Arm, den ihm Bargeb lächelnd hingestreckt hatte, einen großen Fetzen ab, schnellte zurück und würgte den Brocken so gierig hinunter, daß ich die Schlingbewegungen bis zu der Stelle, wo sein Magen liegen mußte, verfolgen konnte. Dann zog er wieder mit trägen Schwanzschlägen seine magischen Kreise.

Bargeb saß ruhig da. Er lächelte noch immer, obwohl sein rechter Arm nur noch einen Stummel bildete, der beim Ellenbogen enden mochte, und der linke — das sah ich erst jetzt — ihm ganz zu fehlen schien.

Wie ich das Haus verließ, weiß ich nicht. Ich fand mich auf der Straße wieder, mitten in diesem tropischen Gewitterregen, und hörte mich verwirrt flüstern: "Kein Blut, kein Tropfen Blut... Also eine Halluzination, nichts als eine Halluzination...!"

Zwei Tage später las ich in der Zeitung, Bargeb sei verschwunden, und heut erhielt ich von seinem Rechtsanwalt einen Brief, in dem er mir mitteilte, Bargeb habe mich "für den Fall seines plötzlichen Untertauchens" zum Gesamterben bestimmt.

Zunächst wollte ich entsetzt ablehnen. Aber ich kann es nicht. Fragen Sie nicht, warum. Ich könnte Ihnen die Frage nicht beantworten. Ich weiß nur, daß mich irgendetwas zu dem gelben Zimmer hinzieht. Irgendetwas. Morgen werde ich übersiedeln.

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